„Alles was lebt, kommt aus dem, was schon tot ist.“ (Sokrates)

„Much Hands“ in der Mail Art

Ein Diskussionspapier über eine Erweiterung des Kunstbegriffs in der Mail Art

Eine Vorbemerkung: Experten der englischen Sprache könnten den Begriff „Much Hands“ kritisieren. „Much Hands“ erhebt den Anspruch unabhängig von der englischen Grammatik und Wortbedeutung seinen eigenen Sinn und qualifizierende Bedeutung für das Internationale Mail Art–Netzwerk als Teilgebiet der bildenden Kunst.

„Mail art, arte postale, correspondence art, arte correo, postkunst, postal art is art, sent by post. It is fun, non-commercial & creative. Interested? Search the internet for „mail art calls“ or „mail art projects“. The more you send, the more you will receive!“ (Ka van Haasteren)

Der aus dem Englischen kommende Begriff mail art (Netzwerkkunst, Kunst per Post, Mail Art) ist ihrem eigengesetzlichen Wesen nach Kommunikation, challange and response, Frage und Antwort. Eine vorgegebene künstlerische Manifestation eines (Ab)Senders und Reaktion eines anderen, eines Empfängers. Eine Diskussion auf gestalterischer, gleichberechtigter Ebene in die auch Menschen einbezogen sind, die von sich aus nicht den Anspruch erheben, Künstler sein zu wollen.

Vom Anspruch der Mail Art her gesehen, befindet diese sich im Gegensatz zur gesellschaftlich akzeptierten und mit Geld aufgewogenen Kunstproduktion des Kunstbetriebs, die doch im Geldbegriff fixiert, erstarrt, in sich tautologisch vereist, und im Todestaumel hektisch strampelnd.
(…. die sich wie Leichen durch die Bilder ziehen….: Gottfried Benn)

Mail Art verweigert sich der Vermarktung und konzentriert sich auf das weite Feld lebendiger Kommunikation der verschiedensten Menschen aller Kontinente in schier unübersichtlichen Varianten und Variationen. Legt man den Fokus auf Kommunikation per Post, scheint die Vorstellung auf, Mail Art sei die Fortsetzung der Briefkultur, die durch die Einführung des europäischen Postwesens ab 1490 durch die Firma Thurn und Taxis entwickelt wurde. Hier ist bildende Kunst bestenfalls Beigabe. Im System der Mail Art handelt es sich um Kunstwerke, die Kommunikation durch Kunst herstellen. Es ist selbstverständlich, dass verschickte Mail Art Originale sind, die beanspruchen als solche gewürdigt, ausgestellt/gezeigt, dokumentiert und archiviert zu werden. Auf diese kann/soll reagiert werden, aber sie müssen unzerstört erhalten bleiben. Eine Gestaltung, die diese erweitert durch den Empfänger und Hinzukommenden, darf das Original in seiner faktischen Existenz nicht verletzen oder gar vernichten. Jedoch Kopien der Mail Art, können bei Beibehaltung des Originals im Sinne der Empfänger verändert werden, wenn auf dem neu entstehenden Werk die Urheberschaft des Bildes, von dem die Initiative ausging, erkennbar bleibt, um Mail Art zu bleiben. Mail Art ist Kunst und darf nicht als entwertetes Material oder durch einen Recycling-Gedanken missbraucht und anonymisiert werden. Diese soll Gegenstand von sie würdigender und visuell gestaltender Diskussion sein. Der faschistische Satz, man könne erst dann etwas Neues aufbauen, wenn man das Vorgegebene vernichtet oder zerstört habe, oder „wo gehobelt wird, fallen Späne“ verbietet sich hier. Veränderung geschieht unter erkennbarer Integration des zu Verändernden.

Das Internationale Netzwerk der Mail Art hat sich seit den 70iger-Jahren permanent erweitert mit und über den Satz von Robert Rehfeld hinaus:

„Diese Karte teilt dir meine Gedanken mit, denke sie weiter“

Ryosuke Cohen hält von Japan aus mit seinem Mail Art Projekt „Brain Cell“ einen sehr umfangreichen Teil des internationalen Netzwerkes zusammen und verteilt uneigennützig im Sinne der Mail Art-Ideale auch die Adressen seiner Einsender. Seine Mail Art erfüllte schon immer das Sammeln, Verändern, Transformieren und Weitersenden an andere Kollegen/Innen nach den Grundprinzipien von „Much Hands“.

Heike Sackmann hat ein auf dem dialogischen Prinzip (Martin Buber) beruhenden Austausch von Sender und Empfänger entwickelt, in dem zeichnerisch auf eine Mail Art reagiert wird und der Empfänger jeweils weiterführende, eigenständige phantasievolle Antworten gestaltet. Diese Zeichnungen werden vervielfältigt und gebunden in Buchform veröffentlicht.

Achim Heidemann und Lutz Leibner hatten einst ein ähnliche Prinzip als „Ping Pong“ bezeichnet und untereinander bildnerischen Austausch betrieben und am Ende einen gedruckten Katalog an Mail Art-Kollegen/*Innen verteilt.

Eine andere Variante praktizierten die beiden Frauen Johanna Kleve und Panajota Tserkesi indem diese sich zunächst mehrere Karten untereinander zuschickten zu einem Thema eines Mail Art-Calls, diese sammelten und ihr Gesamtergebnis dem Call-Auslober übergaben. Eine Tendenz zu gemeinsamer künstlerischer Arbeit wird erkennbar, die man auch „kollektive Mail Art“ nennen könnte.

Die hier als neu, als Erweiterung der bildnerischen Gestaltungstechniken der Mail Art bezeichneten „Much Hands“ erarbeiten nach ähnlichen Prinzipien eine auf Gemeinsamkeit sich ergebende Bildgestaltung. Von den grundsätzlich zu erhaltenden Originalen der Mail Art, derer einer habhaft wird (das eigene Archiv/Leihgaben/ Internet/Blogs), werden Kopien angefertigt wie Fotografie, Fotokopie, Internet-Ausdruck oder Computerscan. (Gibt es noch mehr Kopierverfahren?) Diese Kopien werden nach Kenntnis und Arbeitsweise der jeweiligen Beteiligten eingesetzt mit dem Ziel eines neuen Bildentwurfs. Die Kopie selber kann schon eine Collage sein und gleichzeitig der Bildträger zum „Much Hands“. Diese Kopien oder auch eine einzelne Kopie wird auf einen neuen Bildträger montiert oder diese Kopie(n) selber stellen den Bildträger eines neuen, anderen Bildentwurfs dar. Überlegungen ob Bildgröße und Bildträger im Postversand überhaupt möglich sind, entfallen hier. Aufgabe und Ziel ist es ein Kunstwerk zu schaffen. Das Transportproblem ist nachgeordnet bis irrelevant. Die Mail Art im Gewand der „Much Hands“ wird eine Technik unter anderen im System der bildenden Kunst. Der im Kunstbetrieb postulierte Geniebegriff wird relativiert und in der albernen publikumstäuschenden Manier seiner einsamen „Gottherrlichkeit“ in Konkurrenz gesetzt zu den Wir-Projekten, die Kunst schon immer war.

Kunst ist ein Wir im gelegentlichem Ich Glanz.

Wie kam es zu den „Much Hands“? Der Kollege Rainer Wieczorek war damit recht lange schwanger und er müsste sein Archiv und seinen „Streikposten“ durchforsten, um den genauen Zeitpunkt seiner Befruchtung fest zu stellen. Vermutlich um das Jahr 2012. Arbeitsintensiv betrat er den Kontext des Internationalen Mail Art Netzwerkes im Jahre 2008. Davor sind im Oeuvre selbst diverse hinführende Ansätze zu finden, ohne gedanklichen Bezug auf die Mail Art. Das Wissen, das es ein Phänomen wie die Mail Art gibt, liegt in den 90ziger Jahren durch Kenntnisnahme der Publikation „Mail Art Szene DDR 1975 bis 1990“, Herausgeber Friedrich Winnes/Lutz Wohlrab. Daraus folgte die erste Mail Art-Aktion „Straße komm wieder“. Zu etwa 20 Namen aus diesem Katalog konnte Rainer Wieczorek die Adressen recherchieren. Kollege Joseph W. Huber war der einzige der antwortete. Aus heutiger Sicht bedauert Rainer Wieczorek, dass dieser einzige sensible Impuls, dieser Pong, nicht zu einen Dialog führte. Da wurde eine Chance zum Kennenlernen verpasst. Kollege Ottmar Bergmann schloss sich bewusst dem Internationalen Mail Art-Netzwerk im Jahre 2008 an. Bei öffentlichen Malaktionen machten Wieczorek und Bergmann Jahre davor bereits 3 mal einige Erfahrungen beim gemeinsamen Arbeiten mit mehreren anderen Künstlern. Und nun in diesem Sommer Juli 2015 beim direkten arbeiten im Gylsboda Art-Center (Südschweden) wurde es Rainer Wieczorek bewusst, dass „Much Hands“ etwas Neues, eine Erweiterung des Systems der Mail Art sind.

Bei den ersten „Much Hands“ wurden mit Klebeband diversester Arten zunächst Kopien wie bei einer Collage zusammengestellt und angeklebt, teilweise auf farbigen Grund, dann bemalt und weiteres allgemeines Collagematerial hinzugeklebt bis zu dem Prozesspunkt, wo die Entscheidung gefällt wurde: Bild fertig. Wenn an solch einem „Much Hands“ mehrere Personen gemeinsam arbeiten, umso überraschender bzw. anders wird solch ein Bild in Bezug auf die eigene Arbeit des einzelnen Beteiligten. Die „Much Hands“ sind für eine freie Entwicklung zu einem „anderen“ Bildergebnis angelegt. Es ist dabei durchaus legitim,

wenn im Prozess der Bildentstehung das Collagematerial regelrecht durch Übermalen oder Überkleben bis auf einen kleinen Rest der Erkennbarkeit verschwindet oder es wird die Technik der Decollage angewendet, um die Vorgabe wieder hervor zu holen oder was immer an künstlerischer Technik die einzelnen Kreativen meinen anwenden zu müssen, um zu ihrer Bildfindung, in der die Mail Art-Vorgaben integriert erscheinen, zu gelangen. Wer Angst hat vor dem leeren Bildträger, der fertige eine Kopie aus seinem Mail Art-Archiv und klebe diese auf einen Bildträger und der Anfang zu einem Prozess der Bildfindung ist getan. „Much Hands“ bieten eine Anknüpfung an die Geschichte der gemalten Bilder, der Collage bis in die Assemblage. Dieses Much Hands-Prinzip kann die ganze Klassische Moderne adaptieren für sich. Die Mail Art kann hier aus ihrer Randständigkeit im System der Kunst in ihr Zentrum rücken, in interaktive Prozesse bis in Konzepte von Gesamtkunstwerken liegt ein Arbeitsfeld vor uns. Dass Kunst aus Kunst, aus den Erfahrungen der Geschichte der Kunst, hervor geht, ist innerhalb der Arbeitsprinzipien von „Much Hands“ sichtbar gemacht. Sieht man die der Mail Art entnommenen und eingeklebten Kopien als Formkern, so sind dessen darin enthaltenen bildnerischen Elemente nach dem dynamisch fortschreitenden Gestaltungsprozess von „Formkern und Auswicklung“ (Asger Jorn) im Bild vermittelt und bewahrt. Ein egoistisches, auf Herrschaft über das Bild ausgerichtetes, unsensibles Vorgehen, das nicht auf die Eigenheiten der eingeklebten Vorgaben aus der Mail Art eingeht, verbietet sich von selbst.

Alle Beteiligte an der Entstehung eines „Much Hands“ werden mit weitestgehender wissenschaftlicher Akribie benannt, die Unterschiedlichkeit ihres Vorgehens im Bild wird freigelegt. Ein „Much Hands“ zerstört nicht die Originale von Mail Art-Kolleginnen und Kollegen, um zum eigenen Bildentwurf bzw. Kunstprodukt zu gelangen. Ein „Much Hands“ benutzt Mail Art nicht als namenloses Material zum eigenen Kunstentwurf. Der Einzelne, das Paar oder die Gruppe beendet den Kunstentwurf durch Übereinkunft, jeweilige Signatur und Benennung aller Autoren/Innen. Die Genesis des Bildes, der Gestaltungsprozess, ist damit beendet. Das Kunstwerk setzt sich als eigenständig Gewordenes der Gesellschaft aus, genügt sich selbst und behauptet sich autonom.

Das „Much Hands“ hat viele Gemeinsamkeiten mit dem im Internationalen Mail Art-Netzwerk geübten Add On und seinen verschiedenen Spielarten. Auch da werden Zwischenkopien bearbeitet oder unbearbeitet weiter versendet. Ein Add On ist aber der Willkür, die im Mail Art-Netzwerk von einigen Kollegen und Kolleginnen praktiziert wird, ausgesetzt. Hinzu kämen die gewohnheitsmäßigen Schlamper, Zerstörer und Wegwerfer, die ein absolutes Ende eines potentiellen Kunstwerkes der Mail Art verursachen. Auch im Internationalen Mail Art-Netzwerk gibt es den Einfluss der Wegwerfgesellschaft. Missmut und tagesschlechte Launen, unbewusstes Missfallen an der eigenen Lebenssituation, soll dadurch bereinigt werden, in dem etwas, das einem nicht passt, weggeworfen wird. Mail Art aber ist ein Geschenk, eine Vor-Gabe im Sinne des Potlatsch und diese hat man würdig zu behandeln, zu dokumentieren und zu archivieren, als wäre es von einem selbst gestaltet. Gerade das besonders Befremdliche sollte besonders geachtet werden, weil man von dem, was einem fremd und eigenartig erscheint, am ehesten etwas Neues lernen, erkennen kann. „Erkenntnis ist schön“ sagen schon die alten Griechen und mit ihnen Friedrich Nietzsche.

Einige Mail Artisten kommen den „Much Hands“ ebenfalls sehr nah, denn ihre Stilistik beruht auf einer additiven Methode. Mail Art wird collagiert zusammengestellt und kopiert, gescannt und so zu neuer Mail Art umgesetzt. Ein anderer Stil ergibt sich aus dem additiven Zusammensetzen von Stempeln, Aufklebern und Papiernotizen.

Elke Grundmann beendet gerne die ihr zugesendeten Add On und sendet diese nach Italien zum Kollegen Moreno Menarin, der eine hervorragende Sammlung/Archiv dieser Add On pflegt.

Es gibt sicher eine größere Anzahl von Verfahren, die Mail Art in ihren Möglichkeiten erweitert bzw. am erweitern sind, mehr oder weniger bewusst. Die Kenntnisse dazu sind mit Sicherheit unvollständig, doch auf manche Überraschung darf man sich gefasst machen.

Eine Übersicht bedarf einer internationalen Zusammenarbeit von theoriewilligen Empirikern. Doch die Meinung von älteren Kollegen aus den Anfangszeiten von Fluxus und aus den Zeiten des Kalten Krieges, die Mail Art sei überholt und damit vorbei, ist mit Sicherheit unrichtig, da ja schon die Neuentwicklung zum „Much Hands“ zeigt, dass (diese dem Geldbegriff nicht verfallene Kunst voller Vitalität aufspielt. Die Zeiten ändern sich und auch die Gestaltung von Kunstwerken in den Zeiten. Wie positiv/negativ, gut oder schlecht obliegt der Meinungsfreiheit besser noch einer systematischen Forschung. Diese Forschung wird aber wegen der relativ geringen Bekanntheit und Popularität der Mail Art nicht so schnell kommen, außer Kollegen/Innen der Mail Art machen es selbst.

Das „Much Hands“ beruht auf einem interaktiven Gestaltungsprozess und birgt in sich viele Gemeinsamkeiten mit der kollektiven Malerei. Der Begriff des Kollektiven (eigentlich ist er sehr schön: collectere = zusammen tragen, zusammen fassen) ist durch das missglückte Gesellschaftsbild dogmatisch erstarrter Funktionäre kommunistischer Regime kompromittiert, der Begriff Gemeinschaft ist durch die Nazis bemakelt; – wir schlagen vor, dafür den Begriff „gemeinsamer Gestaltungsprozess“, „gemeinsam entwickelte Malerei“ zu benutzen. (Die aus der Psychologie kommenden Fachbegriffe: „Kollektives Unterbewusstsein“, „Kollektives Bewusstsein“ sollten aber weiter benutzt werden.) Da ist auch das Phänomen von dem kollektiven Bewusstsein aller geschauten Kunst im jeweils neu gestalteten Kunstwerk zu beachten. Wir heutigen Menschen sind Erben der geschichtlichen Verhältnisse und Vorgänge, niemand ist ohne Voraussetzung ins Leben geschickt worden. „Das Gedächtnis aller geschauten Kunst belastet den Betrachter, wenn er ein einzelnes Bild ansieht oder einen Natureindruck aufnimmt.“ (Carl Einstein), was nicht ausschliesst das der Anblick eines Kunstwerkes einfach nur genossen werden kann.

Auf die Bildende Kunst übertragen, kann eine Collage auch Zitat-Bild genannt werden. Dass zu jedem Zitat ein Name oder Quellenangabe gegeben wird, ist als selbstverständlich anzusehen. Wir würden auch dadurch die ständige Occupation und falsche Aneignung von Ideen der Kunst durch Erfolgreiche und Mächtige entgehen, zumindest erschweren. Unsere Welt wäre auch durch solche Übereinkunft ein wenig friedlicher. Die Mail Art in der Form von „Much Hands“ schließt sich den in den Wissenschaften entwickelten Standards des Zitierens an.

Angela Behrend fotografiert gerne Taggs die sie beim Durchstreifen von Großstädten in Winkeln und Ecken verschiedenster Baulichkeiten entdeckt, überträgt diese auf eine Papiervorlage und näht sozusagen die Zeichnung des Taggs nach. Elke Grundmann montiert Dinge, die sie an verschiedenen Orten aufsammelt auf Pappen. Diese Assemblagen werden in das Internationale Mail Art Netzwerk versendet. Beide Verfahren sind Transformationen, die der Mail Art das Feld der Graffiti und der Street Art erweiternd hinzu fügen und Mail Art als einen Teil des kollektiven Gedächtnis der Menschheit dokumentieren.

Die Diskussion ist eröffnet.

(Im Zusammenhang mit den Much Hands wird ein weiterer Text in Aussicht gestellt der sich u. a. mit Geldfragen, Urheberrecht und Internet beschäftigt)

Ottmar Bergman und Rainer Wieczorek, Gylsboda/Berlin August 2015

„Die Geschichte endet nicht mit uns“ (Sokrates)