Rede zur Einführung in die Mail Art-Ausstellung in der Galerie Zwitschermaschine

Abschrift
Ottmar Bergmann
Kunstwindhund –
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Rede zur Einführung in die Mail Art-Ausstellung in der Galerie Zwitschermaschine in Berlin, Potsdamer Str. 161, am 20. Oktober 2013, 19°° Uhr

Meine sehr verehrten Damen, sehr geehrte Herren!

Viele Besucher einer Mail Art-Ausstellung fragen oft, was denn das Besondere der Mail Art sei. Mail Art heißt grob übersetzt Postkunst, Kunst im Medium Brief, Paket, Postkarte, mit der Post verschickt. Aber das ist ein äußerliches Zeichen, man kann nämlich durchaus eine Mail Art persönlich überreichen oder durch andere dem Adressaten aushändigen lassen. Entscheidend ist Korrespondenz, die Kommunikation zwischen Sender und Empfänger. Robert Rehfeldt erhob den Briefverkehr zur Kunst und war Schaltstelle zwischen Künstlern in Ost und West „Diese Karte teilt dir meine Gedanken mit, denke sie weiter!“ oder „Mail Art ist Denk Art, ich schick dir einen Gedanken zu, bitte denke ihn weiter.“ Heute möchten wir diesen Austauschgedanken erweitern in:

Bitte denke ihn weiter, artikuliere Deinen Gedanken visuell ablesbar und bildnerisch gestaltet  und schicke ihn mir zu. Vielleicht kann ich dann ebenso bildnerisch auf ihn reagieren.

Viele wissen, dass Dichter und auch Maler Briefe schrieben, die Philologen zur Interpretation der Werke und vor allem zur Klärung von Biographie und Leben erklärend heranziehen. Ist eine Briefstelle gefunden, ist schriftlicher Beweis erbracht. Oft wird die Befragung des eigentlichen Kunstwerks umgangen. Neben den Bildern hat Vincent van Gogh mit den ihm nahestehenden Menschen ungemein fleißig und intelligent korrespondiert. Um Fortschritte und Problemlösungen in seiner Malerei zu erörtern, hat er gerne Zeichnungen hinzugefügt, immerhin so einsichtsvoll gestaltet, dass Fälscher anhand dieser Briefe Bilder rekonstruierten, die jetzt als echte in den Museen hängen. Es gab und gibt also den Künstlerbrief mit Tinte, Tusche, Farbstift und Aquarellfarben, die im übrigen von der beflissenen Händlerschaft wie originale Kunstwerke gehandelt werden. Diese Entwicklung kommt so zum Endprodukt des Bildbriefs, wo der Text der Korrespondenz selten mit dem beigefügten Werk der bildenden Kunst zu tun hat, also ein rein schmückendes Beiwerk abgibt. Der Beschenkte ist damit beglückt eines minderen Kunstwerks auch noch kostenlos teilhaftig geworden zu sein. Das Postwesen hat den „kleinen Brief“, den kurz gefassten Informationsbringer, die Postkarte, entwickelt; später dann vorne das Foto einer Gondel im Canal Grande mit herzlichen Grüssen aus Venedig vorgedruckt und auf der Adressenseite die kurze Notiz; uns geht es gut, die Sonne scheint am Lido als eigenes Medium auch der Fotografie.

Die Maler der Künstlergemeinschaft „Die Brücke“ haben jedoch untereinander ein hauptsächlich bildnerisch gestaltetes Korrespondenzsystem auf Postkarten geschaffen, indem sie ihren Kollegen und Sammlern zeigten, an welchen Bildern sie gerade arbeiteten. Wahrscheinlich realisiert sich in diesen Postkarten- Bildern das künstlerische Wollen der Brücke-Maler am deutlichsten. Zwei Voraussetzungen der Mail Art waren damals schon vorhanden: Die künstlerischen Werke werden auf Postkarten mit der Post verschickt und werden von einem kleineren Netzwerk untereinander verbundener Menschen aufgenommen. Die Mail Art hat sich etwa seit den 70er Jahren über das einzelne Sender- Empfängerverhältnis hinaus entwickelt in den größeren Zusammenhang internationaler Netzwerke. Diese Vergrößerung führte zu dem meist im Internet, aber auch postalisch verbreiteten Mail Art-Calls, die den potentiellen Teilnehmern ein Thema vorgeben. Ich denke, im Augenblick sind über das Internet etwa 400 Calls abrufbar.

Rainer Wieczorek hat einen solchen Mail Art-Call über die verschiedensten Informationssysteme ausgerufen mit dem Thema: „Widerständigkeit als Pflicht (Auch eine Geburtshymne auf Georg Büchner am 17. Oktober 2013 wird er 200 Jahre jung.)“

Für Mail Art-Calls gibt es Regeln, die sich eingebürgert haben.

  • Es gibt keine Honorare.
  • Keine Rücksendungen der eingeschickten Mail Art-Werke, die aber auch nicht verkauft werden dürfen.
  • Ausnahme: Wenn vorher ausgeschrieben darauf hingewiesen wurde, dass Erlös für wohltätige oder kulturelle Zwecke bestimmt ist.
  • Keine Jury, das bedeutet: kein Ausschluss von Arbeiten und keine Zensur. No exclusion. Man geht davon aus, dass jeder sein Bestes gibt.
  • Weltweiter Austausch ohne Grenzen, Globale Internationalität.
  • Aktuelle Dokumentation meint, den Kontakt der Teilnehmer untereinander durch Reproduktion der Arbeiten mit Absender zu ermöglichen. Das kann ein gedruckter Katalog, aber auch eine Adressenliste oder eine Veröffentlichung im Internet sein. Je nachdem wie der Mail Art-Akteur mit seinen Mitteln dies zu gestalten vermag.

Pflegliche Archivierung, kein Wegwerfen und Verschwindenlassen, so, dass die  Arbeiten wieder eingesehen, aufgefunden und weiter gezeigt werden können. Präsentation in der Öffentlichkeit ist wünschenswert, (Ausstellung, Internet, lasst eurer Fantasie freien Lauf!).

Manche Ausschreibung hat aber auch Einschränkungen, meist aus schlechter Erfahrung oder aus den geringen Möglichkeiten einer  mediengerechten Aufbereitung formuliert. Verpönt sind  schwarz-weiß-Fotokopien anderer Werke, also reine, schlechte Reproduktion von irgend etwas ohne eigene Gestaltung. Manche wollen nur Postkarten wegen der bequemeren Bearbeitung. Da  sich ein Call an eine Allgemeinheit wendet, kann die persönliche Reaktion zu kurz kommen, mitunter auch wegen Sprachproblemen. Oft schickt man an einen Call Arbeiten ab und hört nie wieder etwas davon. Sang- und klanglos verschwunden oder wie bei der Akademie der Künste in Berlin ohne Strukturierung an die Wand getackert zu einem analen Misch-Masch-Haufen. Wer der Autor einer Mail Art ist, sollte nun doch in einer öffentlichen Ausstellung erkennbar sein. Zumal bei der Akademie der Künste es sich um eine aus Steuergeldern geförderte und der Allgemeinheit verpflichtete Institution handelt, die auch vom Gründungsakt her eine Korrespondenz zwischen Künstlern organisieren wollte und weitaus bessere Möglichkeiten an bezahlter Arbeitskraft und Finanzierungsmöglichkeiten hat. Es gibt natürlich viele Varianten der Ausschreibung, aber noch mehr Varianten der Einsendungen. Da das Netzwerk international ist, gibt es überraschende Ideen und Gestaltungen, verschiedener Humor und verschiedene Ironie. Das Urteil „Thema verfehlt“ kann aus eurozentrierten ästhetischen Gründen  schlichtweg falsch sein.

Eine eigenständige Form der Mail Art kann das „Add-On“ oder „Add and pass“ sein. Hier wird in das Netzwerk meist ein Din A 4 Format an Adressaten geschickt, mit der Bitte etwas hinzuzufügen und weiter zu senden an weitere, die etwas hinzufügen möchten. Manchmal kann etwas vorgegeben sein, manchmal wird die erste Vorgabe dem Empfänger überlassen. Oft geht der Beitrag wie eine Flaschenpost ins Blaue, Ungewisse und man sieht die Arbeit nie wieder und weiß nicht, was aus ihr geworden ist. Finnische Teilnehmer haben mir in jeder Phase der Entwicklung eines „Add-On“ Farbfotokopien geschickt, was mir die einzelnen Stationen der Weiterentwicklung aufschloss.Die jeweiligen Veränderungen wurden ablesbar. Es gibt aber Kolleginnen und Kollegen, die „Add ons“ grundsätzlich ablehnen. Postkunst ist grundsätzlich „art in progress“ und ich meine, „Add and pass“ ist hierzu besonders geeignet. Der bekannte Mail-Artist aus Uruguay, Clemente Padin, der von der dortigen Diktatur eingesperrt und gefoltert wurde und für den Mail Art die überlebensnotwendige Funktion hatte, sich international zu verankern, damit er nicht dem Vergessen anheimfalle, bekennt:

„Mail Art-Kunstwerke sind nicht für den Kunstmarkt gemacht, sondern um konsumiert und kommuniziert zu werden. Es ist unmöglich, das Künstlerische auf das Politische oder Soziale zu reduzieren. Der politische Inhalt von Kunst ist untrennbar mit ihrem künstlerischen Inhalt verbunden. Mail Art offenbart sich als eine Form des sozialen Bewusstseins.“

Mail Art sollte sich möglichst weit von dem geldgeilen Kunstbetrieb und Auktionswesen entfernt halten, denn diese haben die Pest der Unkultur am Hals, – und das ist ansteckend – nämlich Kunstwerke zur Ware zu degradieren: als Ware verliert Kunst den eigen ihr innewohnenden wahren Sinn. Natürlich gibt es auch in der Mail Art-Gemeinde schwarze Schafe, die permanent versuchen, auch ihre oder anderer Mail Art als besondere Ware zu verscherbeln, sie in den internationalen Kunstbetrieb einschleusen zu wollen. Dass einige Akteure aus der Mail Art- Szene sich nicht an die Abmachungen, Grenzen und Voraussetzungen halten, mitunter dumpfbackig und überheblich, kann vorkommen und ist unschön und unangenehm. Schwarze Schafe gib es überall. Mancher sähe darin eine Erfüllung seiner Träume vom gesellschaftlichen Aufstieg, vom Aufstieg in die geldbesetzte Hochkultur, Glamour von Porsche und Rolex-Uhr. Ähnliches geschieht, weil auf dem Markt die Ware knapp wird, derzeit mit der Kunst von Outsidern. Doch so etwas wäre ein Verrat an dem in der Mail Art innewohnenden utopischen Möglichkeiten über den Kunstbetrieb, der von Nassauern und Schmarotzern an der Kunst, betrieben wird, hinaus, eine eigene, selbstkonstruierte Bühne ihrer eigenen Auftrittsmöglichkeiten zu realisieren. Anderes wäre aber auch ein Verrat an der Entwicklung der  bildenden Kunst des XX. Jahrhunderts selbst, die die „Mitproduktivität“ der Empfänger, der Betrachter, in den Mittelpunkt ihrer Ästhetik stellt. Hier einige Zitate und Erwägungen:

„Die Kunst ist nicht das, was man sieht; sie ist in den Lücken. Es ist der Betrachter, der diese füllen muss. Ohne seine schöpferische Teilnahme bleibt das Werk Fragment.  Er allein kann es vollenden.“ (Marcel Duchamp)

„Die Wirklichkeit der Kunst beginnt in den Augen des Betrachters und erlangt Kraft durch Phantasie, Erfindungsgabe und Konfrontation.“ (Keith Haring)

„Die Kunst spiegelt den, der sie ansieht, nicht das Leben.“ (Oscar Wilde)

„Ein Bild lebt durch die Gesellschaft eines sensiblen Betrachters, in dessen Bewusstsein es sich entfaltet und wächst. Die Reaktion des Betrachters kann aber auch tödlich sein. Es ist daher ein riskantes und gefühlloses Unterfangen, ein Bild in die Welt zu entlassen. Wie oft wird ihm durch die Blicke der Vulgären und die Grausamkeit der Machtlosen, die ihr Unglück am liebsten auf alles andere übertragen würden, ein dauerhafter Schaden zugefügt.“ (Mark Rothko)

Seit den Überlegungen des Kunsthistorikers Aby Warburg zum energetischen Anstoß des in allen Menschen angelegten Vermögens der Erinnerung und seinem Bildatlas zur Erinnerungskunst, seinem Buch, „Mnemosyne“, setzt sich in den Künstlerdiskussion zum Verhältnis des Kunstwerks als Sender zu seinen Betrachtern/Innen als Empfänger der Gedanke der „Mitproduktivität des Betrachters“ am Kunstwerk immer deutlicher durch. Neuzeitliche Kunstwerke werden durch diesen Gedanken geprägt und kommen dieser ästhetischen Forderung nach. Der Begriff der „Mitproduktivität“ erscheint in den 40iger Jahren des XX. Jahrhunderts erstmalig in einem Brief des Malers Max Beckmann an seinen Münchener Kunsthändler Günter Franke. Später beschäftigen sich vermehrt Künstler mit dieser Erweiterung des Bildbegriffs. Das Bild ist nicht mehr die Herstellung einer in sich statischen gewordenen Situation der Konkretisierung und Individualisierung von Bildgehalten, sondern als Anstoß zu einer dynamischen, dialektischen Auseinandersetzung zwischen Bild und seinen Betrachtern, ein Wechselspiel von „Challange and Response“ (Toynbee, Aufforderung-und-Antwort-Verfahren), ein geistiges Hin und her oder Ping-Pong- Spiel. Damit die Betrachter/Innen dieses Spiel aufnehmen können, müssen sie in das Bild hineinsehen können, Zutritt und Einblick gewinnen. Ist das gelungen, können sie Ihre Reaktion bildnerisch artikulieren. Jeder der Beteiligten leistet gleichberechtigt an der „Kunst im Progress“ („art in progress“) Gestaltungsarbeit am Ort des Empfangs der jeweiligen Mail Art, sozusagen am Ort seines Wirkens, überall kann eine Mail Art-Werkstatt sein. Jeder kann und darf sich einmischen, mitmachen; ein wahrhaft demokratischer Prozess. Diesen demokratischen Prozess stellt die Mail Art gegen die statische Fixierung  und Geldwertfestschreibung der und in der „Diktatur der Kunst“ (Jonathan Meese), die der Kunstbetrieb permanent betreibt. Je höher („marktfrisch“) der Warenwert, desto höher die Qualität des Kunstwerkes. Blöder geht’s nicht und das kommt von Leuten, die meinen, sie repräsentierten Hochkultur. Mail Art will nicht Hochkultur sein, sie will eigen sein: als visuell gestaltete Eigenart.

Es gibt themenbezogene Mail Art-Calls, die Soziales meinen und fordern. So ist derzeit die sich immer weiter öffnende „Schere zwischen Reich und Arm“ geradezu Mode geworden. Gut gemeinte Kunst ist nicht immer gute Kunst, wenn sie nicht im Medium dieser Kunst bildnerisch gut gestaltet ist. Dass Armut in der Welt und in der Bundesrepublik Deutschland etwas Schlimmes ist, das wissen auch einfältige Mitbürger, zu dieser Erkenntnis braucht man keine Kunstwerke. Dafür braucht man keinen künstlerischen Einfall, keine bildnerische Gestaltung. Solche Mail Art-Calls bergen in sich die Gefahr, dass das Medium der Mail Art als künstlerische besondere Leistung unter geht, im Thema und sozialen gut gemeinten Anliegen erstickt oder wegfällt. Moderne künstlerische Gestaltung hat viel mit Spiel zu tun. Ein Mail Art-Call der Nationalen Armutskonferenz, 200 Jahre Georg Büchner „Friede den Hütten„ hat dermaßen das Tremolo des Gutgemeinten hochgespielt, dass man gar nicht bemerkte, dass Georg Büchner auch noch anderes geschrieben hat, als den Hessischen Landboten und als „Thema verfehlt!“ hätte man da angesehen, dass eine Mail Art zum Ausdruck bringen kann, dass der spätere Dramatiker und Revolutionär, genau vor 200 Jahren ein Baby war und gerade einmal nur Bäääh schreien konnte. Georg Büchner hat ja auch „Leonce und Lena“ geschrieben und Kurt Schwitters meint: „Das Ziel ist nichts, der Weg ist humorvoll“. Man kann sich aber auch des Eindrucks nicht erwehren, dass die vielen Hinweise auf Dada und Fluxus, das additive Anhäufen von Collageschnipseln, oft auch noch schlecht geklebt, schlampig gemacht, nach dem Motto geschieht: Die Menge bringt’s oder Dabeisein ist alles. Offenbar sind manche Sender nicht genug selbstkritisch. Die Mail Art ist ein großzügiger, demokratischer Magen, sie verträgt Vieles. Eingelöst wird das Wort von Asger Jorn, Volkskunst sei, wenn das Volk selbst Kunst macht. Dietrich Grabbe war neben seinem Zeitgenossen Georg Büchner der bedeutendste Erneuerer des deutschsprachigen Dramas seiner Zeit. Man kann sagen, dass der Titel seines Lustspiels „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung? das zum Ausdruck bringt, was Mail Art leisten will, kann und auch leistet. Die Kunstbetriebskunst, im Warencharakter erstickt, kann just das nicht erbringen, sie ist abgelebt und hat sich selbst ihres eigentlichen Gehalts beraubt, indem sie sich selbst zum der bildenden Kunst aufoktroyierten Warencharakter bekennt. Das Konkurrenzsystem verlangt natürlich den Ausschluss des möglichen Mitproduzenten und konzentriert sich auf den originären einzigartigen Kunstproduzenten als Warenzeichen, der Betrachter wird durch Monumentalformate und zentnerschwere Materialanhäufungen schlichtweg überwältigt. Das sagt natürlich den brutalen, gewaltsamen Unterdrückern, den geldgierigen Unternehmern und Bankern in unserer heutigen Gesellschaft, speziell in den USA, zu. Honoriert werden diese hoch gelobten Kunstwerke mit für normierte Mittelschichtsbürger unvorstellbaren Geldbeträgen. Die anderen Lösungen sind Kunstprodukte, die im Medium der Postkarte vielleicht ihren mediengerechten Platz haben könnten: es sind nicht Bilder, es sind Verniedlichungen des Bildbegriffs: es sind Bildchen. Nette, charmante Bildchen, gemacht für den erleichternden Zugriff des Konsumenten. Diese gesellschaftlich  mit höchsten Geldbeträgen honorierte Position der als zeitgemäß deklarierten, beifallsumheischten Kunst ist rückschrittlich. Andere fortgeschrittene Leistungen der bildenden Kunst werden ausjuriert, nicht zugelassen und von Möglichkeiten professionellen Gestaltens, z.B. der Möglichkeit der Anmietung eines Ateliers, der Beschaffung von qualitätsvollen Material etc. ausgeschlossen. Übrigens waren die Malverbote im 3. Reich ähnlich konstruiert. Der Unterschied ist, dass heute die Behinderungen von den vorenthaltenen Geldmitteln kommt, seinerzeit die Behinderungen obrigkeitlich erzwungen, brutal, aber offen waren. In einer wirtschaftsdemokratischen Gesellschaft z.B. der Bundesrepublik Deutschland, deren oberster ethischer Begriff das Geld ist und alle menschlichen Beziehungen über Geld und Vermögen gewertet werden, ist die Vorenthaltung von Mitteln akzeptiert, als normale und allgemein als gerecht empfundene Niederlage im Konkurrenzsystem. Wogegen die im Ergebnis gleiche Unterdrückung von Kunst und Künstlern, – damals von der Mehrheit des Volkes akzeptiert -, durch das Nazi-System heute  als empörend empfunden wird. Empört Euch! Dieser Ausschluss ist, – mit welchen verschiedenen Mitteln auch immer, durchgesetzt – in jedem Land und zu jeder Zeit empörend, zu verachten und zu bekämpfen. Demgegenüber ist die Mail Art ihrem innersten Wesen nach demokratisch, wirkt sozusagen im Untergrund und erfüllt die gegenseitige Mitproduktivität des Empfängers im Sender- und Empfängerverhältnis die die moderne, zeitgemäße bildenden Kunst als grundlegendes Charakteristikum schon im XX. Jahrhundert entwickelt hat und der die  arrivierte Hochkultur-Karrierekunst nicht mehr nachkommen kann. Die bildende Kunst des herrschenden westlichen Geldsystems ist hinter diese Position zurück gefallen, sie ist rückschrittlich. Schaut man sich um, weiß man, es gibt viele weggedrückte Kunstproduktion von talentierten Künstlern/Innen, einmal die Arbeiten derer, die mit aller Macht in den bestehenden Kunstbetrieb hineindrängen wollen, aber dort nicht aufgenommen werden; – frustrierende Vergeblichkeit der Anpassungsbereiten, die trotz Identität mit den abscheulich lebensfeindlichen Verhältnissen – wie die Huren ohne zahlungswilligen Freier – nicht hoch kommen. Zum anderen die Menschen, die aus dieser gesellschaftlichen und ästhetischen Situation ihre Konsequenzen gezogen haben und dem Kunstbetrieb mit seinen Händlern, Funktionären und Beamten zumindest kritisch bis verachtend gegenüber stehen.

Es gibt natürlich ein ablesbares Symptom für die Abgelebtheit der akzeptierten Kunstbetriebskunst, deren Ausstellungen zeigen immer das gleiche: einfallslose Einförmigkeit dominiert, vom Warencharakter der Werke und vom Konkurrenzneid der Produzenten gekennzeichnet. Dagegen schauen Sie sich bitte die Ausstellungen der Mail Art, an, die Rainer Wieczorek angeregt, gesammelt hat und hier in Berlin an verschiedenen Orten zeigt: Lebenslustige vitale Lebendigkeit in gesteigertem Andersein, Unangepaßtsein und Vielseitigkeit. Wer sehen kann, erkennt diese Stärke. Hilfe! Blinde, Kunstbetriebsblinde dirigieren die gesellschaftlich arrivierte Kunst, sie fördern nie die fortgeschrittene Kunst – wie immer in der Geschichte, – sie behindern sie. Der bestehende systemimmanente Kunstbetrieb ist ein Kunstverhinderungsbetrieb. So kommt es, dass die Mail Artisten die Kunstvermittlung für die aufnahmewillige Öffentlichkeit selbst in die Hand nehmen müssen, selbst organisieren ohne die Subventionen öffentlicher Steuergelder, von denen die überreichen Arrivierte zusätzlich auch noch zehren. Sie sehen hier eine Ausstellung, die der Künstler Rainer Wieczorek ohne irgendwelche finanzielle Hilfen von Außen mit Hilfe des Freundeskreises Zwitschermaschine, sowie den Betreibern der anderen Ausstellungsorte auf die Beine gestellt hat und haben. Dafür ist zu danken und ich denke, die beteiligten Mail Artisten halten das ebenfalls für ein Geschenk. Allen Beteiligten ist zu danken. Zurückgewiesen wird der zutiefst herabwürdigende kapitalistische Gedanke, was nichts koste, sei auch nichts wert. Gekostet hat dies hier Mühe und Arbeit, Arbeitskraft, Erfindungsgeist, Engagement; – es kostete Porto und vor allem: es entsteht keinerlei Gewinn. Letztlich ist Mail Art ein Austausch vergleichbar dem Potlatsch. Es ist ein System des gegenseitigen Schenkens, natürlich ethisch grundsätzlich höherwertiger als die Geldgier von Konzernen, Monopolen, Spekulanten und Bankern, die besser meinende und sozial denkende Menschen immer aufs Tiefste verachten sollten.

Friede den Hütten, Krieg den Palästen.

Bedeutet heute in unseren Lebensverhältnissen nicht, dass die materiell Benachteiligten – wie in der französischen Revolution – die reichen Schmarotzer und Ausbeuter, die Spekulanten mit Wohnungen und Nahrungsmitteln, die geldgierigen Banker und ihre noch geldgierigeren Aktionäre gleich aufs Schafott schleppen sollten: Nein, wir sind nicht die RAF und wir benehmen uns nicht so blutrünstig wie die Imperialisten in der dritten Welt; aber wir sollten den Kapitalismus, seine Betreiber und seine sklavischen und servilen Schergen und Billiglöhner in der Weise verachten, indem wir ihre ästhetischen Normsetzungen als überholt, irrelevant und bösartig unterdrückend abtun, sie vor allem nicht als die unseren akzeptieren, sie auslachen. Widerständigkeit kann beweglich und lustig sein. Wir wollen nicht deren Sprache sprechen, denn sie ist von Lügen durchsetzt, geradezu versaut. Deren Sprachregelungen haben nur Verschleierung und Manipulation der Bevölkerung im Sinn. Wir sollten ironisch und lustbetont verdeutlichen: Champions league, die uns die Haushaltsabgabe abnötigt, Formel 1, die umweltschädlich, tautologisch in sich kreist, Porsche und Rolex sind hässlich und ihre Anbeter im höchsten Grade lächerlich. Wir von der Mail Art aber sind doch nicht blöd, wir sind kritikfähig, zeigen die Zähne und unsere Mail Art gestaltet in der bildenden Kunst den eigenen, neuzeitlichen, fortgeschrittenen Schönheitsbegriff freier Menschen : kurz gesagt:

SIE IST IN IHRER WIDERSTÄNDIGKEIT SCHÖN.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit